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Die Abkürzung

16.01.11 by Charly Speaks

Prolog

Ich werde zwar in dieser Geschichte von mir erzählen, aber ich habe das Geschriebene nicht erlebt.
Wenn irgendeiner meiner Leser vor allem, oder vor vielem, Angst hat, sollte er dieses Buch auf der Stelle zuklappen und weglegen. Es geht zwar nicht um Gespenster in meiner Geschichte, aber sie handelt von einem Mädchen, dass wie von Geisterhand in die Abkürzung getrieben wird. Und zugleich in eine grausame Geschichte, die ihr Leben für immer ändern wird.

1. Kapitel

“Josephine, würdest du mir bitte erklären was heute mit dir los ist?”
Frau Norinzki starrte mich mit wütender Miene an. Ich war heute ziemlich unaufmerksam, weil ich nur an die Party dachte die Kevin heute Abend gab. Dazu müsst ihr wissen, dass Kevin mein absoluter Schwarm ist. Doch leider kann auch mein absoluter Schwarm nichts gegen den wütenden Blick meiner Mathelehrerin machen. “Naja, ich…äh…bin heute etwas…müde!”
Weil ich mich schon die ganze Woche lang auf Kevins Party freute, und unkonzentriert war, kannte die Klasse meine Ausreden schon und stöhnte. “Dann gehst du jetzt bitte nach hause. Ich werde dir einen Brief für deine Mutter mitgeben und ihr alles über deine Schlafstörungen mitteilen.”
Ich wollte zuerst wiedersprehen, aber zu den harten Worten meiner Lehrerin fiel mir nichts ein. Ich dachte mir, dass die Stunde, die zu meinem Glück die letzte war, gleich zu Ende war. Also nahm ich den Brief an meine Mutter und ging auf den Schulhof. Dort setzte ich mich auf eine der kalten Tischtennisplatten.
Nach kuzer Zeit läuteten die Schulglocken. Alle stürmten nach draußen. Da sah ich meine Freundin Tracy und rannte auf sie zu.
“Man, Jojo! Was war denn eben mit dir los? Liegt`s an der Mathearbeit morgen oder an der Party heute abend?” fragte sie.
“An der Party heute abend. Sag mal hast du nicht in einer Woche Geburtstag?” Tracy funkelte mich mit ihren grünen Augen an.
“Immer schön vom Thema ablenken, was?”
“Du hast gewonnen! Komm lass uns gehen. Sonst bekommt meine Mutter noch einen Anfall!”
Ich sprang von der Tischtennisplatte und warf mir meine Tasche auf den Rücken.
“Tschau, Tracy!”, rief ich, als ich die Stufen zu unserem Haus hochging. Ich hörte meinen kleinen Bruder von drinnen schreien. Am besten erzähle ich euch etwas über meine Familie. Ich heiße Josephine, aber werde meistens Jojo genannt. Ich bin sechzehn Jahre alt und gehe in die 11. Klasse der High School von Bayonne, einem kleinen Vorort von New York.
Ich hatte zwei Geschwister. Einen 16-jährigen Bruder, Harry, und einen fünfjährigen Bruder, Sam.
Meine Mutter öffnete mir die Tür. “Na, Joy! Wie war dein Tag?” Ich zog meine Jacke aus und antwortete: “Och, ganz nett. Äh…was soll ich heute Abend anziehen?”
“Mal gucken! Jetzt geh erstmal in die Küche und iss!”
Ich ging in die Küche und setzte mich auf meinen Platz. Da sagte mein nerviger, großer Bruder: “Wer nicht kommt zur rechten Zeit der muss sehen was übrig bleibt!” Er grinste. Es war wirklich nicht mehr viel da, aber für mich reichte es. Meine Mutter wusch, während wir aßen, Geschirr ab.
Nach dem Essen ging ich auf mein Zimmer. Wenig später kam meine Mutter und brachte mir das schwarze Abendkleid, auf das ich sehr stolz war. Es war knielang und unterhalb der Hüfte quer geschnitten, sodass mein rechtes Bein ganz und mein linkes schräg nach unten verlaufend von dem Kleid bedeckt wurde.
Ich blickte auf die Uhr und schlüpfte in mein Kleid. Zwei Stunden später war ich auf Kevins Party.
Tracy war auch da. Kevin wohnte in einer riesigen Villa mit Swimming-Pool. Es war wirklich ein gigantisches und schönes Haus. So eines, wie ich mir früher immer eines gewünscht hatte. Früher, als ich mir noch wünschte eine Prinzessin zu sein und eine Fee zu haben. Früher als mein kleiner Bruder noch nicht existierte. Früher als alles besser war. Früher eben!
“Hey, Jojo! Der Dj legt echt gut auf, ne?”, meinte Tracy.
“Du sagst es! Kommst du mit, ich hol mir noch ein paar von diesen köstlichen Buletten!”, brüllte ich, da die Musik so laut war. Tracy nickte, dann gingen wir zum Buffet. Kevins Mutter hatte einen riesigen Kuchen gebacken und etwa 500 Buletten gemacht. Nun stand sie hinter dem Buffettisch, bediente eifrig Kevins Gäste und sah recht zufrieden mit sich und der Welt aus. Ich nahm mir zwei Buletten und etwas Salat, grüßte freundlich Kevins Mum, die mir nur zunickte (ohne ihr Lächeln abzusetzen, das mir langsam ein wenig künstlich erschien) und aß dann seelenruhig, während Tracy nur ein Glas Wasser trank. Könnte man nach dieser Beschreibung denken ich sei fett und Tracy wäre nur eine dünne Bohnenstange, die kaum was isst und trotzdem meint, sie wäre zu dick? Das wäre, nun ja, nicht richtig. Ich bin nicht dünn. Keine Bohnenstange. Auch nicht dick. Erst recht nicht fett. Ich bin ein angenehmes Mittelding. Ich hatte ein wenig Schwabbel auf der Haut, aber eine wunderbare Bikinifigur und vorallem hatte ich schöne Rundungen. Nicht dick. Leicht, man könnte es so ausdrücken, moppelig. Tracy dagegen war schön schlank. Sie hatte noch nicht einmal ein bisschen Specki. Sie hatte gar nichts. Außer Muskeln und Haut und dem Rest eben. Da sie regelmäßig Turnen und Fußballspielen ging, waren ihre Beine und auch ihre Arme wunderschön geformt. Manchmal war ich echt eifersüchtig. Sie war so hübsch. Sie hatte braune, lockige lange Haare und große haselnussbraune Augen. Ich dagegen hatte rote Haare. Langweilige, rote Haare, die immer taten was sie wollten. Wenn man Tracys Haar sah, dachte man: “Perfect”. Wenn man meins sah: “What the fuck?!”. Ich kam damit zurecht. Mein Haar war leicht wellig und kurz. Ich hatte eine Art Bob. Ganz nett, dachte ich mir manchmal. Aber so war das eben. Ich war es gewohnt mit Tracys Schönheit zu leben. Ich kannte sie schon seit der Grundschule.
Als ich zuende gegessen hatte tanzten Tracy und ich noch ein wenig. Zum Schluss wurde eine Poolparty veranstaltet. Gegen halb elf sagte ich zu meiner besten Freundin: “Ich muss gehen. Wegen der Mathearbeit morgen früh.”
Tracy grinste “Wir können doch noch ein bisschen zu mir gehen und üben.” Ungläubig starrte ich sie an.
“Nein, nein! War nur Spaß. Wir gehen jetzt, wie abgemacht, zu dir nach Hause.”
Wir verabschiedeten uns und gingen. Weil Kevin etwas außerhalb der Stadt in einem Villenviertel wohnte, hatten wir einen sehr langen Weg vor uns.
“Hey, wart mal. Ich glaube ich kenne hier eine Abkürzung.”
Ich zögerte, doch dann ging ich mit. Es war schon ziemlich dunkel und auch sehr kalt. Außerdem kannte ich mich in dieser Gegend nicht so gut aus. Ich hatte ein mulmiges Gefühl bei der Sache.
Plötzlich blieb Trcy stehen und zog mich zu sich: “Guck mal, da ist irgendjemand in dem Wäldchen, da vorne. Ob das ein Mörder ist, der uns beobachtet?” Sie lachte. Mir war gar nicht zum Scherzen zu Mute. Ich wollte nur noch nach Hause. “Haha.”, gab ich gekünstelt zur antwortet und fröstelte als ich den Typen erblickte. Wir waren ungefähr zwanzig Meter von dem Wäldchen entfernt und konnten im Dunkeln nur Schemen erkennen. Der Mann (eigentlich könnte es auch eine Frau sein) hatte sich halb hinter einem Baum im Schatten versteckt. Jedenfalls sah es so aus als ob er sich versteckte. Ich hatte das schaurige Gefühl, dass er uns anstarrte. Uns beobachtete. Also zog ich Tracy von dem Wäldchen weg in die andere Richtung. Ich wollte es jedenfalls. Doch als ich sie packen wollte, hatte ich ins Leere gegriffen. Als ich nachgedacht hatte war sie in Richtung Wäldchen gegangen. Warum?
“Tracy! Komm zurück! Tracy!”
Doch sie war schon in das Wäldchen gerannt. Sie drehte sich kurz vor dem ersten Baum um und rief etwas, das ich nicht ganz verstand. Es klang wie: Ich muss mal pinkeln. Dann war sie hinter den Bäumen verschwunden. Ich schaute mich suchend nach dem Mann um, der vor Kurzem noch ca. dreißig Meter von dem Ort wo Tyler verschwunden war gestanden hatte. Er war weg. Na, toll! Das war Horror pur, wenn man mich fragt. Ich friere, es ist dunkel, ich bin in einer Gegend in der ich mich nicht auskenne, meine Frundin und einzige Begleitung ist verschwunden und ein unheimlicher Mann ist auch noch da. Oder auch nicht.
Ich war ziemlich müde und es fröstelte mich.
Die Zeit verging. Nun sagte mir mein Zeitgefühl, dass Tracy schon viel zu lange weg war. Die Furcht überfiel mich. Langsam und vorsichtig ging ich auf das Wäldchen zu. Als ich den ersten Baum erreicht hatte, rief ich Tracys Namen. Doch es herrschte Stille. Plötzlich fühlte ich mich in das Wäldchen gezogen. Wie eine unheimliche Macht. Ich ging hinein. Nun war es so dunkel, dass ich kaum noch meine eigene Hand vor Augen sah. Plötzlich packte mich etwas von hinten.
Ich drehte mich um und sah einen Mann. Er war um die dreißig Jahre alt, hatte langes schwarzes Haar und hellblaue funkelnde Augen. Den Rest seines Körpers konnte ich wegen der Dunkelheit nicht sehen.
Ich schloss die Augen und hoffte, dass alles nur ein böser Traum war. Doch als ich sie öffnete, sah ich zuerst ein hämisches, ja sogar fast diabolisches Grinsen und dann eine Faust auf mich zurasen. Instinktiv zuckte ich weg. Die harte knochige Faust des Mannes traf mich nur an der Schulter, was auch höllisch weh tat.
Dann rannte ich, so schnell ich konnte, aus dem Wäldchen. Als ich mich umschaute, merkte ich, dass der Mann stehen geblieben war. Gottseidank! Doch plötzlich rannte er wieder in den Wald. Ich machte mir keine Gedanken mehr über den Mann, sondern rannte, ohne zu gucken, aus der letzten gruseligen Baumgruppe des Wäldchens und dann über eine Straße. Doch wie es auch kommen musste, raste ein Auto direkt auf mich zu. Ich sah die Lichter, rannte schneller, doch es war schon zu spät. Das Auto war schon da. Ich sah nur noch schwarz, dann wurde ich ohnmächtig.

Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich ein verschwommenes Gesicht über mir. Es war meine Mutter. Ich blinzelte kurz und schaute dann um mich. Ich war in einem Krankenhaus. Meine Mutter lächelte mich an und fragte: “Wie geht es dir, mein Schatz?” “Es geht so. Den Umständen entsprechend.” Meine Mutter prustete laut los, als hätte ich einen riesigen Witz gemacht: “Guck mal, ich habe dir Pralinen mitgebracht. Greif zu!” Sie hielt mir eine Schachtel hin.
“Naja … gestern abend hat dich jemand auf einer Straße gefunden. Du hast eine leichte Gehirnerschütterung, sagt der Arzt. Aber in ein paar Tagen bist du wieder fit. Wo war Tracy eigentlich bei dem Unfall?”
“Ich weiß es nicht!”, kam es aus mir heraus. Mir war, als hätte ich mein Gedächnis verloren.
Doch mit einem Mal erinnerte ich mich wieder an das Wäldchen. Ich hatte es genau vor Augen. Die unheimlichen Schatten, der Typ. Alles. Es war alles so merkwürdig gewesen. So skuril. So unvorstellbar. Ich hatte viele Fragen. Aber ich blieb still. Meine Mutter schaute mich nachdenklich an. Ich schob mir eine Praline in den Mund.
“Aber du bist doch mit ihr nach hause gegangen?”
Ich guckte aus dem Fenster und antwortete nicht.
“Nachher kommen Polizisten. Sie möchten mit dir reden, weil du in einer Gegend aufgefunden wurdest, in der ein …”
Sie verstummte und ihr stiegen Tränen in die Augen.
“… lang gesuchter Mörder seine Opfer auswählt, um sie umzubringen.”, beendete sie den Satz und umarmte mich so fest, dass ich dachte ich müsste ersticken, während sie weinte.
Als ich das hörte, blieb mir die Praline im Hals stecken.

Meine Mutter ging wieder nach Hause. Am Nachmittag kamen zwei Polizisten.
“Na, junges Fräulein! Wie geht es dir?”, fragte der eine.
“Gut, Danke!” Junges Fräulein?
“Mhm, wir haben ein paar Fragen an dich.”, sagte der andere Polizist.
Er holte einen Notizblock aus seiner Jackentasche.
Der erste Polizist fing an:
“Warst du allein in dieser Gegend?”
Ich dachte an Tracy. Sie musste noch im Wäldchen sein. Doch ich sagte mir, wenn da wirklich ein Mörder Menschen abschlachtet und der Tracy gefangen hält, sollte er nicht von Polizisten provoziert werden.
“Ja!”, sagte ich.
“Deine Mutter hat uns aber etwas anderes erzählt.”
Der andere Polizist blickte von seinem Notitzblock auf, starrte mich eine ganze Weile lang an und fragte schließlich:
“Du heißt doch Josephine, oder?”
Ich nickte.
“Also, Josephine! Deine Freundin könnte in Schwierigkeiten stecken. Sag uns, wo sie ist!”
“Ich weiß es nicht!”
Schweigend sahen sich die beiden an und der eine schüttelte den Kopf als ob ich nicht verstehen würde, was er damit meinte.
“Na gut! Ist dir sonst irgendetwas aufgefallen?”, fragte er dann.
“Nein!”
Der zweite Polizist stöhnte:
“Das hat doch keinen Sinn! Sie weiß eh nichts!” Ich nickte zustimmend.

2. Kapitel

Ich wurde immer noch nicht fertig damit, dass Tracy verschwunden war. Ich hatte Angst um sie. Und Angst um mich. Der Typ wollte auch mich. Ich wusste das. Ein ungutes Gefühl.
Aber inzwischen war ich wieder zuhause. In Sicherheit. In der Geborgenheit meiner Mutter und meines großen Bruders. Sicher.
Das gefiel mir. Aber ich hatte trotzdem Angst. Immer wenn ich alleine zuhause war, kroch sie wieder in mir hoch und berüßte mich mit Schweißausbrüchen. Wie lange sollte ich das noch durchmachen?
Meine Mutter hatte mir schon ärztliche Hilfe besorgt. Sie hatte sogar bei der Polizei um Schutz gebeten, doch sie hatten abgelehnt. Weil der Fall für sie abgeschlossen war. Jedenfalls was mich betraf. Tracy suchten sie weiter. Jedoch nicht im Wäldchen. Wieso? Ich wusste es selbst nicht.

Es war wieder einer der Abende an denen ich allein in meinem Zimmer saß und weinte, während irgendeine Serie im Fernsehen an mir vorbeiplänkelte.
Ich vermisste Tracy so.
Meine Mutter musste mich schon regelrecht zwingen etwas zu essen. Ich wollte nicht. Ich konnte nicht.
Ich war blass geworden seit meinem Aufenthalt im Krankenhaus und ich hatte abgenommen. Viel. Ich war eine magere, leere Hülle, die nicht mehr an das wahre Glück glauben konnte. Die an nichts mehr glauben konnte.
Als mein Opa Alfonso gestorben war, hatte ich ein paar Tage lang getrauert. Ich hatte ihn sehr lieb gehabt, aber nur alle zwei Monate gesehen. Bei meinem Papagei Helene waren es zwei Wochen gewesen.
Ich hatte eben schon so einige Verluste erlitten. Aber keiner war wie Tracy.
Ich gab mir die Schuld an Tracys Tod. Oder an ihrem Verschwinden. Immer, wenn ich an sie dachte, musste ich mir einreden, dass sie nur verschunden war und nicht tot. Ich musste. Sie lebte.
Doch Tracys Verschwinden und mein Unfall waren jetzt schon vier Tage her. Immer noch keine Spur von ihr.

Meine Mutter rief mich zum Essen. Wiedereinmal.
Aus Gewohnheit kam ich und setzte mich an den Tisch. Mein großer Bruder war ausgegangen. Einer weniger. Ich fühlte mich ungeschützt.
“Schatz, iss doch was. Bitte.”, flehte meine Mutter und sah mich besorgt an. Mein kleiner Bruder Sam reichte mir die Schüssel mit Nudeln.
“Wir können dir auch was bestellen. Oder …”
“Danke, Mum.”, murmelte ich und wollte aufstehen.
“So kann das aber doch nicht weitergehen, Joy.” Sie stützte den Kopf in die Hände und sah mich nachdenklich an.
“Mum, mir gehts gut. Es ist nichts.”, sagte ich nun mit Nachdruck.
Sam kam zu mir und setzte sich auf meinen Schoß. Er sah mir tief in die Augen und gab mir ein Küsschen auf die Wange. Dann umarmte er mich ganz feste. Ich erwiderte die Umarmung. Ich wollte ihn nicht verlieren. Nicht ihn auch noch.
“Josephine.” Meine Mutter lächelte und begann den Tisch abzuräumen. Sam verschwand in seinem Zimmer und ich blieb sitzen.
“Mum,” begann ich.
“Ja, mein Liebling.”
“Ich habe Angst.” Sie hielt inne, legte das dreckige Geschirr beiseite und kam zu mir.
Wie zuvor Sam, nahm auch sie mich nun in den Arm. Ganz fest.
Ich begann zu weinen.
“Nicht weinen, mein Schatz. Alles wird gut.”
Auch sie begann nun zu weinen. Es war die Ironie in Person, die sich nun einschlich. Es würde niemals alles wieder gut werden. Und das wusste sie und deshalb weinte sie.
Nachdem wir so eine Weile da Arm in Arm gesessen hatten, stand sie auf, als wäre nichts gewesen.
“Kannst du gleich noch den Müll rausbringen?”, fragte sie.
“Mh.”, murmelte ich zur Antwort. Also stand ich auf und schnappte mir den Müllbeutel.
Die Mülltonne befand sich in unserem Garten. Es war ein großer Garten. Und ganz hinten in der Ecke am Zaun stand die Mülltonne. Dahinter war ein Wald.
Es war dunkel.
Ich schlüpfte in meine Schuhe und zog die Tür hinter mir ran. Dann stapfte ich in Richtung Zaun.
Dort hinten war es noch unheimlicher und die ganze Sache mit Tracy kam wieder hoch.
Es war so dunkel. Ich hatte Angst. Das Haus war nun schon ca. 20 Meter entfernt. Ich hatte den Zaun erreicht.
Ich warf den Müllbeutel in die Tonne und eilte zum Haus zurück.
Es ging mir gut, dachte ich. Hier war ich in Sicherheit.
Ich riss am Türgriff.
Die Tür ging nicht auf.
Sie war verschlossen.
Dann hörte ich direkt hinter mir lansames, gleichmäßiges Atmen.
Ich wagte nicht mich umzudrehen. Ein Schauder durchfuhr meinen Körper.
Er kommt um mich zu holen, ging es mir durch den Kopf.
Ich drehte mich um. Er stand direkt vor mir. Sein Mund war zu einem Grinsen verzogen. Ich wollte wegrennen. Um Hilfe schreien. Ich konnte nicht. Mein Hals war trocken. Im Haus sah ich meine Mutter. Sie hatte Kopfhörer auf. Er folgte meinem Blick.
Ich schrie. Sie hörte mich nicht.
Ich spürte sofort seine Hand an meiner Kehle.
Er drückte zu.
Alles wurde zuerst rot, dann schwarz.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich gefesselt in einem dunklen Schuppen. Ich sah nur Schemen, weil kein Licht in den Raum fiel. Als ich mich an die Dunkelheit gewöhnt hatte fielen mir viele Waffen an der Wand mir gegenüber auf.
Ich lag auf einer unbequemen Liege.
War ich sein nächstes Opfer? Dies war nur eine, der vielen teils sehr unangenehmen und beängstigenden Fragen, die mir im Moment durch den Kopf schwirrten. Ich musste hier raus. Ich musste ihm entkommen. Doch wie?
Ich wollte mich auf dem Bauch in Richtung gegenüberliegende Wand robben. Konnte ich mich vielleicht mit Hilfe einer dieser Waffen befreien? Doch ich war an die Liege gefesselt. Sofort stieg Panik in mir auf.
Mir kam mir der Geruch von altem Holz und Waffenöl in die Nase.
Dann hörte ich wieder Schritte. Noch waren sie weit entfernt. Sollte ich versuchen um Hilfe zu schreien? Sollte ich es wagen? Oder würde mir dann der Tod drohen? Aber wenn es tatsählich ein Spatziergänger war … Ich musste es versuchen!
“Hilfe! In dem Schuppen! Hilfe!” Ich schrie geschlagene zwei Minuten lang ununterbrochen, als mir die Stimme versagte. Ich musste husten. Es war schwer auf dem Rücken zu Husten. Meine Lungen waren von den letzten Tagen immer noch geschwächt, wie der Rest meines Körpers.
Ich zitterte. Es war kalt und muffig in dem Schuppen.
Dann lauschte ich. Von den Schritten war nichts mehr zu hören. Ich hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gebracht als die Tür aufging. Sie knarrte. Ein unangenehmes und unheimliches Geräusch. Stück für Stück öffnete sie sich. Ich zitterte noch stärker. Dann schloss ich die Augen und begann in Gedanken zu beten, dass alles nur ein Traum war. Dass mir die Welt nur einen Streich spielen wollte. Dass ich leben würde!
Als ich die Augen wieder öffnete, starrte ich direkt in diese kalten, blauen Augen. Sie starrten zurück. Sie waren ungefähr zwanzig Zentimeter von mir entfernt.
“Sie machen mir Angst.”, flüsterte ich. Eigentlich hatte ich schreien wollen, aber meine Stimme versagte.
Er antwortete nicht. Er zuckte noch nicht einmal mit einer Wimper. Er richtete sich nur auf und starrte mich immer noch an.
Ich wandt mich aus seinem Blick und drehte den Kopf weg. Dann wurde mein Gesicht heiß und ich spürte, wie mir eine Träne über die Wange lief. Ich wagte es nicht die Stille zu zerstören und zu schluchzen. Also weinte ich leise vor mich hin.
“Das Schreien wird dir niemals helfen, Josephine.”
Meine Tränen erstarrten zu Eis. Mein Mund wurde trocken. Ich hörte auf zu atmen. Er kannte meinen Namen, schoss es mir durch den Kopf. Ich wagte es nicht mich umzudrehen. In seine gläsernen Augen zu schauen.
Seine Stimme war freundlich und warm. Alles andere kalt. Ich würde sterben. Mit jedem Moment bei diesem Menschen in Gefangenschaft würde ich sterben. Es zerriss mich. Mein Herz. Mein Ich.
Ich drehte meinen Kopf langsam um. Er starrte mir immer noch direkt in die Augen. Ich fühlte Schmerz.
“Was haben Sie mit meiner Freundin gemacht?” Bei dem Gedanken an Tracy, fühlte ich einen Schlag in die Magengegend. Mir wurde schlecht. Ich wollte es nicht wissen.
Er antwortete nicht. Er kniete sich neben die Liege. Dann streckte er die Hand aus. Langsam. Sie kam näher. Er starrte mich an. Seine Augen bohrten sich in meine Gedanken.
Seine Hand war kalt. Seine Fingerspitzen berührten meine Haare. Ich hatte Angst. War er ein Vergewaltiger? War er brutal? War er ein Psychopath? Ich wusste, dass sich diese Frage schon viele vor mir gestellt hatten. Ich wusste, dass ich die Nächste war, die es herausfinden würde.
Ganz langsam fuhr er mit der Hand zu meiner Stirn. Über mein Gesicht. Dabei nahm er eine Träne mit. Immer noch starrte er mich an. Er fuhr weiter mit seiner Hand an meiner Wange entlang zum Kinn. Dann hob er sie ganz leicht und streckte einen Finger aus. Ich schloss die Augen. Ich spürte den Finger an meiner Lippe. Es war, als würde er die Konturen meiner Lippe nachzeichnen. Ganz langsam und vorsichtig. Aus unerklärlichen Gründen verspürte ich Mitleid mit ihm. Aber eine schwere Decke aus Angst lagerte auf mir und überdeckte dieses Gefühl schnell.
Dann war die Hand weg. Ich öffnete die Augen und er sah mich immer noch an. Dann kam er näher. Immer näher. Sein Gesicht war keine zwei Zentimeter mehr von meinem entfernt. Immer noch starrten mich diese tiefblauen Augen an. Ich würde von ihnen träumen. Falls ich denn noch einmal träumen würde.
Sein Kopf ging ganz langsam an meinem Gesicht vorbei und ich spürte seine Haare an meiner Wange. Ein Schauder durchfuhr mich.
Dann spürte ich seinen heißen Atem an meinem Ohr.
“Ich wollte es nicht.”, flüsterte er.
Er hatte sie umgebracht. Ich wusste es. Es gab keine Zweifel. Er war ein Psychopath. Und er hatte Tracy ermordet. Ich konnte nicht mehr weinen. Es war als wollte mein Körper mich nicht mehr. Als wäre meine Seele entflogen. Ich war leer. Ich war das nächste Opfer. Ein Mordopfer. Das Opfer eines brutalen Serienkillers. Ich würde schon sehr bald sterben müssen. Vielleicht sogar auf eine bestialische Art.
Aber aufeinmal konnte ich keine Angst mehr verspüren. Ich empfand keinen Schmerz. Keine Trauer. Mit meiner Seele waren nun auch alle Gefühle gegangen. Ich wollte sterben. Ich musste sterben. Es gab nun kein zurück mehr. Ich war bei einem … bei DEM … Massenmörder. Bei einem Killer. Bei einem Killer ohne Gefühle. Bei einem Killer ohne Herz. Bei einem Psychopathen. Ein Psychopath mit tiefblauen Augen. Starrende, kalte, tiefblaue Augen.

3. Kapitel

Ich öffnete die Augen.
Er war weg.
Ich war allein.
Allein in einem kleinen nach modrigem Holz und Waffenöl riechenden Schuppen.
Und ich zitterte immer noch.
So allmählich hatte ich das Gefühl, dass das alles hier schon seit ewiger Zeit zu meinem Leben gehörte. Dass das alles normal war. Sich nie mehr ändern würde. Wie eine Familie. Ein Leben. Tag ein Tag aus tat man dasselbe. Wie immer.
Warscheinlich täuschte sich auch dieses Gefühl. Ich würde hier niemals einen geregelten Tagesablauf verleben. Ich würde das hier niemals als mein Leben bezeichnen. Ich würde hier sterben. Warscheinlich bald. Vielleicht heute. Möglicherweise gleich.
Wer war der Typ? Der unheimliche Typ. Der Typ mit den tiefblauen Augen. Der Typ, der mich hier gefangen hielt. Der meine beste Freundin umgebracht hatte. Der mich töten wollte. Wer war er? Und warum? Warum das alles? Diese Fragen schwirrten mir durch den Kopf. Doch sie interessierten mich nicht wirklich. Sie waren mir egal. Es war mir egal. Es war mir egal was er mit mir vorhatte und wieso. Es war mir egal, weil ich eh sterben würde. Ich würde es niemandem erzählen können. Niemals.
Vielleicht. Mit einer geringen Chance Glück. Mit einer unwarscheinlich kleinen Chance Glück. Vielleicht konnte ich ja weglaufen. Ich musste es versuchen. Ich konnte nicht einfach so sterben. Das ging nicht.
Ich wand mich auf meiner Liege. Doch die Fesseln wurden nicht lockerer. Ich riss so heftig an ihnen bis ich keine Kraft mehr hatte. Ich gab es auf und versuchte einzuschlafen. Ich war so erschöpft. Und traurig. Obwohl ich nicht mehr weinen konnte. Es ging einfach nicht. Als hätte mir jemand alle Tränen weggenommen. Es ging einfach nicht. Egal wie traurig ich war. Vielleicht, warscheinlich, war es auch besser so. Wenn der Entführer meine Tränen nicht sah. Vielleicht störte es ihn, wenn ich weinte. Vielleicht würde er mich dann töten. Dann erst Recht, dachte ich niedergeschlagen. Ich würde schließlich so oder so sterben. Egal was ich tat. Dieser Psychopath war doch geistig gestört. Er war krank. Er musste töten. Er musste Menschen töten. Blutig. Mit diesen Gedanken schlief ich ein.

Ich wurde von einem Geräusch geweckt, das ich schon kannte. Schritte. Direkt hinter dem Schuppen. Hinter der Wand vor der ich lag. Auf dieser unbequemen Liege.
Ich hatte die halbe Nacht (oder den halben Tag, ich hatte kein Zeitgefühl mehr) wachgelegen und nachgedacht. Ich hatte mir ausgemalt, wie ich sterben würde. Ich hatte mir überlegt, wie wohl Tracy gestorben ist. Ich hatte darüber nachgedacht, was mit mir passiert wenn ich gestorben bin. Wenn ich gelitten habe. Wenn er mit mir fertig war.
Ich wusste nicht was es war, das mich so sicher machte, dass er brutal war. Ich hatte es im Gefühl. Ich ahnte es. Ich roch es. Er war verrückt. Vielleicht hatte er eine schwere Vergangenheit gehabt. Eine grausame Kindheit. Verluste erlitten. Oder er war einfach nur gestört. Ich wollte es eigentlich gar nicht wissen. Ich wollte nur noch hier weg. Weg von dieser Liege. Weg von dieser Hütte und weg von diesem Wäldchen. Weg.

Ich lauschte einen Moment und hörte dann Scharren hinter dem Schuppen. Ein unheimliches Geräusch. Als würde jemand Laub beiseite schieben. Und dann in der Erde graben. Mit einer Schaufel. Hinter dem Schuppen. Laub wegfegen. In der Erde graben. Ich bezweifelte, dass er etwas ausgraben wollte. Er wollte etwas vergraben. Jemanden.
Vielleicht war es Tracy. Vielleicht eines seiner anderen Opfer. Vielleicht …
Ich wollte nicht darüber nachdenken. Auch nicht über das was er dort vergrub. Und erst Recht nicht in welchem Zustand es war. Egal was oder wer es war. Ich wollte es nicht wissen.
Nachdem er fertig vergraben hatte, was auch immer es war, stand er neben mir. Und wieder durchbohrte mich der Blick dieser tiefblauen Augen. Dieser kalten Augen. Ich wollte nicht sterben. Noch nicht. Nicht heute. Oder?
“Hast du schlafen können?” Er hatte bis jetzt nur wenig mit mir gesprochen. Und noch nie etwas gesagt ohne, dass ich ihn vorher ansprechen musste. Es war ein kleines Wunder, dachte ich mir. Er konnte freiwillig sprechen.
“Nein.”, antwortete ich. Meine Glieder schmerzten. Unter meinem zerzausten Haar juckte es. Ich wollte mich kratzen.
Er sah mich an. Er begutachtete mich. Wie eine Ware am Markt, bei der er abwog wie viel sie Wert war und nachdachte, ob es sich lohnen würde sie zu kaufen. Er musterte mich. Abschätzend. Vielleicht dachte er auch darüber nach ob er mich jetzt sofort umbringen sollte. Oder wie er es machen sollte. Vielleicht dachte er grade: Erst den Kopf vom Rumpf trennen und dann in Stücke schneiden oder andersherum. Vielleicht. Bei diesen Gedanken wurde mir übel. Ich würgte.
Er kniete sich neben die Liege. Langsam, ganz langsam, machte er sich an den Fesseln zu schaffen. Es war als ob wir ewig Zeit hätten. Ewig. Bis ich sterben würde.
Als er fertig war, richtete er sich wieder auf. Er sah nicht zufrieden aus. Auch nicht unzufrieden. Er starrte durch mich hindurch. Mit einem Blick aus gähnender Leere. Ich schauderte.
Dann versuchte ich meine Arme und Beine zu bewegen. Es gelang mir nach einigen Anläufen. Sie schmerzten sehr. Nicht nur da, wo sich die Fesseln in meine Haut geritzt hatten. Wo das Blut herausgekommen war. Wo alles gelb und blau angelaufen war.
Nein, auch an den anderen Stellen. Es war als wären meine Arme und Beine eingeschlafen. Für eine lange Zeit. Als hätte ich sie seit Jahren nicht mehr benutzt.
Ich setzte mich auf. Mein Magen knurrte. Er hörte es. Ich wusste es. Es war mir unangenehm.
Ich rieb mir die Handgelenke und sah auf sie herab. Blutrot und tiefblau. Rote Striemen. Blut. Und blaue Flecken. Eine scheußlich schmerzhafte Mischung.
“Du hast Hunger.”, stellte er fest und riss mich damit aus meinen Gedanken.
“Ja,” murmelte ich kaum hörbar und ohne aufzusehen. Ich merkte auch so, dass mich seine Augen anstarrten. Beobachteten. Verfolgten.
Ich hörte es rascheln. Dann hielt er mir einen Sandwich hin. Ich griff danach und wunderte mich wie er an solch ein Fertigsandwich aus dem Supermarkt gekommen war ohne erwischt zu werden. Ein furchtbarer Gedanke breitete sich in meinem Gehirn aus. War es möglich, dass er draußen herumlief ohne, dass ihn jemand für den Täter hielt. Hatte ihn die Kassiererin vielleicht noch gegrüßt und ihm einen schönen Tag gewünscht. Hatte er gelächelt wie immer und war einfach durch die Tür aus dem Laden gegangen ohne, dass ihn jemand geschnappt hatte? Ich spürte eine Flut von Tränen und würgte den Kloß in meinem Hals hinunter.
Vielleicht hatte er auch irgendwo einen Kühlschrank. Im Wald. Wie absurd, dachte ich mir und biss in den Sandwich. Voller Gier verschlang ich ihn. Ich war immer noch hungrig. Und außerdem musste ich mal. Ich wagte nicht es ihm zu sagen. Obwohl. Irgendwo musste auch er schlafen und essen und wohnen. Wohnten Killer? Schliefen Killer? Ich war verwirrt. Und wieder starrte ich meine Hände an. Meine von Schorf bedeckten Hände. Meine dreckigen Hände. Er sah mir zu.
Nach einer Weile kniete er sich vor mich, wie eine Mutter vor ihr Kleinkind. Nur, dass er ein alter Mörder war und ich sein sechzehnjähriges Opfer. Eines von vielen.
“Ich muss mal.”, flüsterte ich. Mehr bekam ich nicht heraus, vor Scham. Er lächelte nicht. Er zuckte nicht mit der Wimper. Er guckte nicht böse. Er durchbohrte mich nur mit den tiefblauen Augen. Kontrollierend. Als würde er meine Chancen, weglaufen zu können, abwägen.
Aber die anderen Opfer mussten doch auch mal gemusst haben. Tracy musste auch mal gemusst haben. Oder war sie sofort tot gewesen?
Er wies mir wortlos an mitzukommen. Ich folgte ihm aus der Hütte.
Freiheit, dachte ich. Wie schön. Ich sah mich um. Eine Flucht war unmöglich. Wir waren mitten im Wald.
Es war ein sonniger Tag heute. Ein schöner Tag, um zu sterben.
Er ging vor und ich eilte hinter ihm her. Ich wollte gar nicht abhauen. Ich würde mich nur verlaufen. Oder er würde mich sofort wieder kriegen. Er schien das zu wissen, sonst hätte er mich nicht so unbeaufsichtigt hinter sich gelassen.
Er führte mich hinter eine Baumgruppe zu einer weiteren Hütte.
Sein Haus? Sein Schlafplatz? Seine Toilette? Bald sollte ich es wissen.
Er trat ein, ich folgte ihm. Es war ein kleiner Raum. In einer Ecke stand ein Bett. Daneben ein Schreibtisch, auf dem ein kleiner Kühlschrank stand. Gab es hier überhaupt Strom? Im Wald? Ich war verwirrt, doch ich ließ mir nichts anmerken.
Er führte mich zu einer Tür neben dem Schreibtisch. Dahinter war ein dunkeler Raum. Keine Fenster. Keine Lampe. Keine Kerze. Ich fragte mich, ob er die Tür auflassen würde. Meine Frage sollte nicht lange unbeantwortet bleiben. Er schloss ab. Gottseidank von draußen.
Ich erledigte mein Geschäft und klopfte dann gegen die Tür. Er ließ mich raus.
Er blieb stehen.
Ich blieb stehen.
Ich starrte auf seine Füße. Es war unmöglich an ihm vorbei zu kommen.
Ich sah mich um und erschauderte, als ich ein Skelett erblickte. Es hing direkt über einem weiteren Tisch, auf dem ein blutiges Messer und weitere unheimliche Waffen lagen.
Das Skelett an sich, hätte mir nur wenig Angst bereitet. Aber die Tatsache, dass noch Fleischüberreste, Haare und einige Insekten daran klebten, ließ mich einen Knoten im Magen spüren.
Das Sandwich kam mir hoch. Ich konnte mich noch im letzten Augenblick von ihm wegdrehen und übergab mich.
Er reagierte nicht.
Ich spürte schließlich wie mir schwindelig wurde und ich zu Boden sank.
Ich war nicht ohnmächtig, das wusste ich. Aber es fiel mir schwer mich noch zu bewegen. Ich lag mit der einen Gesichtshälfte in meinem Erbrochenem. Hätte ich noch mehr Mageninhalt gehabt, würde dieser jetzt auch herauswollen, dachte ich mir und richtete mich auf. Er hockte sich neben mich.
Wieder waren da diese kalten Augen. Aber nun waren sie zu engen Schlitzen verformt. Er war sauer.
Ich wusste es, ich spürte es.
In meinem Rücken spürte ich nun deutlich eine Messerspitze. Daraufhin rann mir Blutden Rücken hinunter. Warmes Blut.
Ich spürte nichts. Nur das warme Rinnsal.
Aufeinmal mischte sich ein unglaublicher Schmerz dazu. Er bohrte das Messer tiefer. Er drehte es. Nur ein Stück.
Ich merkte wie er einen Fetzen Haut mitnahm. Er drehte es weiter. Noch ein Stück Haut. Weiteres Blut. Viel Blut.
Ich sank erneut zu Boden.
“Kotze niemals in meinem Haus!”, flüsterte er und zog das Messer heraus. Ich hatte das Gefühl, dass er dabei einige Organe und ganz viel Blut mit herausnahm. Es stimmte natürlich nicht. Das wusste ich. Doch es blutete weiter.
Ich würde verbluten, schoss es mir durch den Kopf.
Doch so leicht durfte ich ihn nicht siegen lassen. Ich würde am längsten durchhalten. Ich würde es schaffen.
Also rappelte ich mich auf und sah ihn an. Er hatte nun Blutspritzer im Gesicht. Mein Blut.
“Mach es weg.”, zischte er und schlug mir mit der Faust ins Gesicht. Dann packte er mich im Nacken und drückte mich mit dem Gesicht nach unten in mein Erbrochenes. Mein Magen drehte sich um. Ich würgte. Aber er durfte nicht siegen, sagte mir meine innere Stimme und ich gehorchte.

4. Kapitel

Nachdem seine Hütte von meiner Kotze befreit war, hatte er mich wieder herausgeschleppt. Warscheinlich hatte er Angst, dass ich erneut kotzen würde.
Ich hatte Mundgeruch.
Ich schmeckte neben dem Erbrochenem auch noch Blut.
Diesmal ging er hinter mir.
Ich wusste, dass er sich ekelte. Vor mir. Vor Erbrochenem. Das machte ihn wütend.
Vor der Hütte blieb ich stehen.
Er ging weiter.
Als er merkte, dass ich ihm nicht folgte, blieb er stehen. Und langsam, ganz langsam, drehte er sich um.
“Komm.”, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Ich blieb stehen.
Ich musste es wissen.
“Wer war das?”, fragte ich.
“Das geht dich nichts an.”
Ich drehte mich um und sah nachdenklich zu seiner Hütte.
“Doch.”, murmelte ich ohne mich umzudrehen.
Ich bekam keine Antwort.
Als ich mich wieder zu ihm umdrehte, war er plötzlich verschwunden.
Dann hörte ich ihn ganz nah an meinem Ohr:
“Nein.” Er hatte es geflüstert. Mit Grabesstimme. Ein Schauder durchfuhr mich.
“Später vielleicht.” Wenn es ein Später gibt. Falls.
Ich ging in Richtung Hütte. Dann fiel mir etwas ein. Ich sah mich um.
Ich kniete mich hin und kurz daurauf wühlte ich in der Erde. Er stand direkt hinter mir und ließ mich gewähren. Er wusste, was ich wollte. Er wusste, was ich suchte. Und er wusste auch, was ich finden würde. Ich zitterte.
Ich grub schneller. Dreck sammelte sich unter meinen Fingernägeln.
Ich stieß auf etwas Hartes. Ich ließ mich nicht beirren und grub weiter.
Ich schrie.
Ein Schmerzensschrei. Mein Fingernagel war abgebrochen. Es blutete. Es hörte nicht auf.
Er sah es.
Er zog mich in die Hütte.
Er nahm ein Messer.
“Was …” Ich schrie erneut. Er kam mit dem Messer auf mich zu.
Dann schlug er mir mit dem Ellenbogen ins Gesicht. Einmal. Zweimal. Dreimal. Ich sackte in mir zusammen und sank zu Boden.

Ich spürte meinen Finger nicht mehr. Ich hatte Schmerzen. Mein Rücken tat weh. Mein Kopf pochte. Es dröhnte in meinen Ohren. Es juckte an meinem rechten Fuß.
Ich öffnete die Augen und wünschte mir sofort sie lieber zugelassen zu haben.
Er stand über mir. Er grinste. Seine Hände waren voller Blut. Dann röchelte ich und in seiner rechten Hand sah ich meinen Finger. Ich blickte zu meiner Hand. Ein Finger fehlte. Blut schoss heraus. Mein T-shirt war rot. Blutgetränkt. Der Boden war rot.
Wieder fiel ich in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Dann wachte ich auf. Ich lag auf der Liege. Ungefesselt. An meiner Hand fehlte immer noch ein Finger. Kein Alptraum. Den Boden, sein Gesicht und seine Hände hatte er inzwischen gereinigt. Die Spuren des Kampfes beseitigt.
“Warum?”, stieß ich hervor.
Ausdruckslos. Starrend. Kalt. Mehr verriet mir sein Blick nicht.
“Warum machen sie das?” Wiederholte ich meine Frage. Doch er wandte mir nur den Rücken zu und starrte die Wand mit den Waffen an.
Ich tat es ihm gleich. Hätte ich die Chance hinüber zu laufen, vor ihm an der Wand zu sein, irgendeine, ganz egal welche, Waffe zu ergreifen und ihn umzubringen? Ihn zu verletzen. Ihm das anzutun, das er mir angetan hatte. Ich spürte immer noch den Schnitt im Rücken. Meine rechte Hand spürte ich jedoch gar nicht mehr.
Ich stellte mir vor, wie es mir gelingen könnte.
Ich stand auf und stieß ihn zu Boden, dann eilte ich an ihm vorbei zur Wand, griff eine Waffe, ein Beil, und schlug auf ihn ein bis er nicht mehr aus nichts als leblosem Fleisch und Blut bestand, das man nie wieder zusammensetzen konnte.
Nur eine Vorstellung.
Natürlich blieb ich ganz brav auf meiner Liege liegen. Ich rührte mich nicht. Ich wagte es noch nicht einmal richtig zu atmen. Würde er eine Waffe auswählen um mich zu quälen? Oder um mich zu töten? Oder um zuerst das eine und dann das andere zu tun. Ich dachte zu viel nach.
Er bewegte sich weiter zur Wand. Langsam. Dann blieb er dicht vor ihr stehen und wählte eine Dose die auf einem kleinen Regal an der Wand stand. Er öffnete sie.
Ich hielt die Luft erneut an.
Er zog zehn kleine Nägel nacheinander heraus. Dann sah er mich an.
“Neun.”, murmelte er und legte einen wieder zurück in die Dose, die er daraufhin ebenfalls wieder an ihren Platz stellte.
Er kam auf mich zu und begutachtete beim Gehen die Nägel in seiner Hand. Ich starrte den Boden an.
Er setzte sich zu mir auf die Liege. Er legte jeden Nagel einzeln vor mir hin. Ich starrte sie an. Sie starrten zurück. Ich stellte mir vor, dass sie möglicherweise genauso viel Angst vor mir hatten wie ich vor ihnen.
Er nahm den ersten und hielt ihn dicht vor sein Auge, als würde er eine Laus oder etwas in der Größenordung darauf suchen.
Dann sah er an dem Nagel vorbei mich an. Er fixierte mich mit seinen gläsernen Augen, dass mir übel wurde.
Ich würde weder den Nagel noch ihn angucken, nahm ich mir vor. Ich würde es über mich ergehen lassen. Was auch immer es war. Ich würde schon irgendwie überleben.

Ich hätte mir nie erträumen können was nun auf mich zukam.
Er nahm meine Hand und setzte den Nagel an meiner Fingerspitze an. Er drückte. Die Spitze bohrte sich unter meinen Fingernagel. Ich schrie vor Schmerz. Es war nicht auszuhalten. Das Blut spritze heraus. Mein Fingernagel wölbte sich. Er brach in der Mitte durch. Ich sah überall Blut.


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